Christoph Feichtinger und Wolfgang Drechsler im Gespräch
D Herr Feichtinger, Sie präsentierten im letzten Jahr zwei neue Werkgruppen, die “I-ronplate Prints” und die “Pneuprint-Photos”: bei den erst genannten Arbeiten handelt es sich um Abreibungen von gußeisernen Abdeckplatten, bei den anderen um Fotos von Reifenspuren. Was verbindet die beiden Gruppen und wie kamen Sie zu dieser doch sehr direkten Auseinandersetzung mit Teilaspekten unserer unmittelbaren Realität?
F Das Urerlebnis für die “Pneuprint-Photos” hatte ich in Frankfurt, als ich, etwas enttäuschtüber die geköpfte Kunst, die das dortige Museum für moderne Kunst zeigte, aus diesem wieder auf die Straße trat, den Kopf gesenkt, nachdenklich. Da fiel mein Blick plötzlich auf einen Reifenabdruck im Thermoplastik eines Zebrastreifens. Spontan spürte ich, daß von diesem eine vitale Kraft ausging. Ich war so gepackt und getroffen, wie ich das sonst nur von Zeugnissen von Stammeskunst her kannte. Und diesem Phänomen bin ich dann nachgegangen.
D Sie sagten, Sie waren enttäuscht von Ihrem Museumsbesuch aufgrund der dort dominierenden “geköpften” Kunst. Das ist kein sehr gebräuchlicher Ausdruck. Was verstehen Sie darunter?
F Ich möchte das an einem historischen Beispiel erläutern: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatten sich Goethe und Herder zu einer Art vitalistischen Ästhetik bekannt. Ich beziehe mich da insbesondere auf eine Schrift von Goethe über die Baukunst, in der er von “Schönheitelei” spricht und diese ablehnt. Dem setzt er eine Kunst entgegen, die aus dem Inneren des Menschen heraus entsteht. Um auf das Moderne Museum zurückzukommen: Ich empfand dort, daß viele der Arbeiten einer existentiellen Wurzel des Schaffens entbehrten, daß es Arbeiten sind, die kunstspekulativ, nicht aber aus dem Inneren heraus entstanden sind.
D Damit kommen wir gleich zu einem Kernpunkt Ihrer Arbeit, Ihres Kunstverständnisses. So schrieben Sie in einem kurzen Text zu diesen Arbeiten von “emotionaler Energie”. Was verstehen Sie darunter konkret?
F “Emotionale Energie” ist für mich jene Ausstrahlung eines Werkes, die zum Erlebnis des “Getroffenseins” führt.
D Und diese sehen Sie vor allem, Sie erwähnten es schon, in den Erzeugnissen außer-europäischer Kulturen?
F Ja, und das war es wahrscheinlich auch, was all die Künstler am Beginn unseres Jahrhunderts gespürt hatten, als sie die Nähe zu solchen Erzeugnissen suchten. Sie – also Matisse, Picasso, Klee, Max Ernst und viele andere – dürften die ästhetisierenden Hervorbringungen der Jahrhundertwende als Blendwerke empfunden haben, die den Ursprung des Schaffens verdeckten. Und Nähe zum Ursprung des Schaffens fanden sie offenbar in den Stammeskulturen oder, wie man auch sagt, in den primitiven Kulturen.
D Glauben Sie, war es wirklich nur der ursprüngliche Ausdruck oder war es nicht auch die ästhetische Erscheinung solcher Erzeugnisse, die die Künstler damals faszinierten?
F Ich bin davon überzeugt, daß es primär die spürbare Kraft war, die von diesen Objekten ausgeht. Natürlich ist diese nicht losgelöst von einer konkreten ästhetischen Gestaltung denkbar. Aber der Ursprung der inneren Berührung ist etwas wie eine Feldstärke. Und genau dieses Mysterium interessierte mich beim Anblick der Reifenspuren, dem ging ich nach. Was kann das sein, dieses Mysterium des Getroffenseins?
D Dabei sind doch Reifenspuren gleichsam der Inbegriff einer industriellen Fertigung – Auto, Technik, neuzeitliche Zivilisation – und somit fast das Gegenteil zu den von Ihnen vorher angesprochenen Erzeugnissen primitiver Kulturen.
F Ja, genau das hat mich interessiert und verwirrt zugleich. Bald erkannte ich jedoch, daß ich dabei auf etwas gestoßen war wie eine Stammeskunst der ersten Welt, wenn ich das so ausdrücken darf. Hier zeigt sich auch der Gegensatz zwischen dem, was ich zuvor geköpfte Kunst nannte, und dem plötzlichen Spüren der Kraft von Grundformen. Dabei ist es gar nicht wichtig, ob es sich um industrielle Erzeugnisse handelt, oder ob sie mit der Hand erzeugt wurden. Wichtig für mich war, daß plötzlich mein Blick frei war für eine äußere Entsprechung einer, um mit G.G. Jung zu sprechen, archetypisch in mir, im Menschen überhaupt, angelegten Tendenz zur Formgestaltung.
D Aber ist nicht gerade die Form eines Reifenabdruckes allein das Resultat eines rein funktionalistischen Prozesses, mit dem Problem der Bodenhaftung oder etwa der Wasserverdrängung gelöst werden sollten?
F Wenn man sich die Vielzahl der Reifenmuster ansieht, verliert man allmählich den Glauben an das ausschließlich Funktionalistische. Natürlich wird ein Ingenieur in erster Linie die technischen Aspekte als Ausgangspunkt für die Gestaltung nennen. Aber trotzdem arbeitet er mit der Wiederholung der Grundformen. Das war wichtig für mich, das hat mich beeindruckt.
D Sie sagten gerade “Grundformen”. Was verstehen Sie darunter?
F Grundformen sind geschlossene oder offene Formen wie etwa Kreis, Dreieck, Raute, Quadrat, Pfeil, Kreuz, Wellenlinie.
D Solche Formen finden sich auch bei Ihrer zweiten Serie, den Abreibungen von ab-Deckplatten, etwa von Schachtdeckeln. Auch bei diesen handelt es sich um industrielle, also massenweise erzeugte Produkte, auch deren Gestaltung liegen – jetzt bin ich schon vorsichtig – primär funktionalistische Überlegungen zugrunde, so soll etwa ein Ausrutschen möglichst verhindert werden.
F Aus welchen Nützlichkeitsüberlegungen diese Musterungen auf den Schachtdeckeln sind, interessiert mich erst in zweiter Linie. Wichtig ist, daß ich an zivilisierten Plätzen so etwas entdecke, das …
D Konkret geschah dies in New York.
F Ja,…. das also zu Mustern angeordnete einfache Formen trägt, die völlig unabhängig von kultureller Zugehörigkeit, unabhängig von Rasse oder geographischer Lage seit Jahrtausenden mondial zu beobachten sind. Sie sprachen mit einem gewissen Vorbehalt, der auch Abwertung suggeriert, von der massenweisen Herstellung. Ich denke, wenn wir in Zentralafrika bei einer primitiven Ethnie die Töpferware betrachten, so wird die sicher auch im Laufe der Jahrhunderte massenweise hergestellt. Trotzdem kommen wir nicht umhin, daß zum Beispiel in der Wellenlinie, die diese irdene Ware umgibt, oder in einer rautenförmigen Bemusterung etwas spürbar wird, das dieser vorhin erwähnten Feldstärke entspricht. Und diese hat mich interessiert. Natürlich frage ich mich auch: Wieso hatte ich dieses nicht schon vorher wahrgenommen? Und warum wird es in der Regel auch nicht wahrgenommen? Da denke ich mir, daß eben alles viel zu sehr nur im Funktionszusammenhang gesehen wird. Man sieht die Spur und sagt “Reifen”. Das weiß ich, das kenne ich – der Fall ist abgehakt, aber ich erlebe nicht mehr direkt.
D Sie sagten, Sie hätten früher auch nichts von der “Feldstärke” wahrgenommen?
F Richtig, kaum.
D In diesem Zusammenhang interessiert mich noch eines: Wann begann eigentlich Ihre Beschäftigung mit außereuropäischen Kulturen? Geschah dies erst in Folge des Frankfurter Erlebnisses oder schon davor?
F Die erste intensivere Auseinandersetzung mit außereuropäischen Kulturen, besonders der des zentralafrikanischen Raums, fällt in die Zeit des erwähnten “Urerlebnisses”. Man kann also den Eindruck gewinnen, daß ich etwa durch die Beschäftigung mit den gemusterten Textilien aus Zentralafrika sensibilisiert wurde für eine ähnliche Gegebenheit in unserer Zivilisation. Und so war es auch tatsächlich; denn die erste Arbeit, die Beschäftigung mit den Pneuprints, zeigt all die Eigenschaften, die ich bei diesen Textilien bewundere.
D Welche Textilien meinen Sie konkret?
F Textilien aus den Fasern der Raphiapalme, hergestellt im Bereich des Königreiches Kuba, in Zentralafrika, im heutigen Zaire. Insbesondere die Gewebe der Shoowa, Bushoong, Ngeende …
D Und bei diesen Produkten sehen Sie die stärksten Entsprechungen zu den von Ihnen gefundenen Formen und Mustern?
F Ja. Es gibt sogar Überschneidungen, wie dies eine Anekdote zum Ausdruck bringt: In den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts kamen Missionare zu diesen Eingeborenen, und zwar mit einem Motorrad, wobei die Eingeborenen weniger vom Motorrad beeindruckt waren, sondern mehr von dessen Reifenspuren im Lehm. Von diesen Spuren waren sie so fasziniert, daß der König Kot Mabinc befahl, dieses im Lehm sichtbare Muster dem Repertoire der Stammesmuster hinzuzufügen. Und in der Tat kann man das an manchen Raphia-velours erkennen. Ich erwarb selbst ein solches Exemplar, in dem ganz eindeutig eine Reifenspur in die übliche Stammesmusterung eingearbeitet ist.
D und diese Geschichte kannten Sie bereits vor Ihrem Pneuprint-Erlebnis?
F Nein, ich beschäftigte mich zwar schon vorher mit den Geweben – oder zumindest gleichzeitig – aber diese Geschichte hatte ich damals noch nicht gehört. Ich sah damals auch noch nicht, daß diese Muster etwas mit Reifenspuren zu tun haben könnten. Doch schon kurze Zeit später, bei einer Ausstellung solcher Gewebe in Wien, machte mich ein deutscher Sammler auf diese Zusammenhänge aufmerksam, was mich natürlich gleichsam elektrisiert hat. Da waren offenbar sogenannte Primitive von den Erzeugnissen der ersten Welt beeindruckt, wo es doch sonst immer umgekehrt ist.
D Würden Sie denn soweit gehen und Ihre Arbeiten in der Hinsicht interpretieren, daß sie auch eine Kritik an der zeitgenössischen Kunst sind, zumindest der des euro-amerikanischen Kulturkreises, da sich diese – Ihrer Ansicht nach – allzuweit von den Grundbedürfnissen weg entwickelt hat?
F “Grundbedürfnisse” ist ein gutes Stichwort. Diese gibt es, und sie wollen gestillt sein. In zahlreichen Abhandlungen taucht immer wieder der Gedanke auf, daß in einer bereits so weitgehend digitalisierten Welt, wie der, in der wir heute leben, der empfindende Mensch auf der Strecke bleibt. Für mich ist es ja eigenartig zu denken, daß das, was mich da so getroffen hat, zum Beispiel die einfache gerautete Darstellung auf einem Schachtdeckel, daß diese Faszination schon vor tausenden von Jahren aktuell war und noch in tausenden von Jahren aktuell sein wird. Das, was ich da gefunden habe, erscheint mir gleichsam wie ein roter Faden. Was nun die gegenwärtige Situation des euro-amerikanischen Kulturkreises anbetrifft, so bin ich beispielsweise beim eingangs erwähnten Besuch des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt in vieler Hinsicht leer ausgegangen; ein Gefühl des Getroffenseins hat sich bei der Betrachtung von Blumes Photoarbeiten, von Förgs Wandbemalung oder von Darbovens schwarz gerahmter Reihung nicht eingestellt; … ja, ich halte diese Beispiele für allzuweit von den Grundbedürfnissen entfernt. Aber das impliziert nicht, daß meine Arbeit als Kritik zu verstehen ist, da geht denn die Fragestellung zu weit.
D Kommen wir noch einmal zurück zu den Anfängen unseres Jahrhunderts, zu der auch von Ihnen erwähnten Auseinandersetzung vieler europäischer Künstler mit den Erzeugnissen außereuropäischer Kulturen. Wenn Sie die Resultate dieser Beschäftigung betrachten, glauben Sie, daß die damals entstandenen Bilder und Objekte wirklich wieder etwas von dieser Urkraft, wie Sie sie nannten, ausstrahlen, daß diese Künstler wirklich wieder zum Ursprung des Schaffens zurückgefunden haben? Oder war es nicht eher so, daß – aus welchen Gründen immer – einfach Formen übernommen wurden, versucht wurde, die eigenen Gestaltungen mit dem Reiz des Exotischen aufzufrischen?
F Das ist ein sehr interessanter Punkt. So wie Sie das formulieren, klingt es fast als würden Sie suggerieren, es sei so etwas wie Nachäffen gewesen. Nicht zuletzt durch meine eigene Arbeit kann ich aber erkennen, daß dieser Vorgang so nicht begreifbar ist. Es mag zwar die eine oder andere Form übernommen worden sein, aber in erster Linie haben diese Künstler ident mit den Vorbildern empfunden. Durch die Anschauung von Stammeskunst waren sie in der Lage, Ballast aus ihrem Repertoire abzuwerfen und somit gewissermaßen formal zu jäten. Ich denke hier zum Beispiel an das Alterswerk von Paul Klee, das eine unbedingte Nähe zu bestimmten Tanzwickelröcken, sogenannten Ntshaks, aus Zentralafrika hat. Man kann natürlich der Ansicht sein, er hätte nur das formale Repertoire übernommen. Ich bin aber überzeugt davon, daß er auch so empfunden hat. Man kann dies deutlich spüren. Auch das Werk von Chillida ist auf weiten Strecken verwandt zu gewissen textilen Erzeugnissen aus Afrika. Es scheint mir aber unmöglich, ein solches Werk nur durch formale Übernahmen, ohne inneres Erlebnis stimmig zu verwirklichen.
D Bei aller verwandter Empfindung, die ich gar nicht bestreiten möchte, haben diese Künstler doch etwas anderes gestaltet, sie haben die Anregungen – und das betrifft nicht nur das Formale – zu eigenen Schöpfungen weiter verarbeitet. Bei Ihren Werken hingegen – zumindest bei diesen beiden Serien – ist der persönliche Gestaltungsakt relativ gering.
F Das stimmt, der Gestaltungsakt bewegt sich in einem Grenzbereich, er ist beinahe unwichtig. In erster Linie zeige ich mir ja selbst etwas, meine persönliche Erfahrung wird wesentlich erweitert, meine Sicht der Umwelt in dieser Zivilisation. Ich hebe einen ausgewählten Ausschnitt von Vorgefundenem heraus und zeige ihn. Möglicherweise wird er dann auch für den Betrachter zu einem Kristallisationspunkt für eine ähnliche Erfahrung. Das klingt jetzt ein wenig nach dem Urinoir, das man abmontiert und in ein anderes Ambiente versetzt.
D Womit wir bei einem weiteren Meilenstein der Kunst unseres Jahrhunderts sind, bei den Ready-mades von Marcel Duchamp. Gerade heute sind wir wieder mit einer Unzahl von Variationen dieser Idee konfrontiert, wobei allerdings fraglich ist, ob auch nur eine den Intentionen Duchamps entsprechen würde. So wie Sie das Urinoir ins Gespräch bringen, klingt es für mich einerseits nach einer Analogie zu ihren Arbeiten andererseits aber auch nach Distanzierung.
F Nein, ich stelle es bewußt in die Nähe. Nur ist das eine Überlegung a posteriori. Wenn man eine solche Fotoarbeit oder solche Abformungen gemacht hat, dann drängt sich ja fast zwangsläufig die schon von Ihnen gestellte Frage auf: Wo bin ich denn? Bin ich noch da? und da helfen die wunderbaren, eindeutigen Präzedenzfälle der Kunstgeschichte, wie der Flaschentrockner oder das Urinoir, also einfache Gegenstände, die Duchamp aus ihrer Umgebung herausgehoben und woanders hingestellt hat, wodurch sie den Charakter von Kunstwerken angenommen haben. Für mich ist das insofern interessant und vergleichbar – abgesehen von allen weiteren theoretischen Implikationen -, als ein verkehrt aufgestelltes und mit “Richard Mutt” signiertes Urinoir, stehe ich davor, bei mir zu allererst Betroffenheit auslöst. Da wird mir erst bewußt, wie ein Urinoir aussieht. In der Regel pisse ich ja nur hinein und nehme es als Formgestalt so gut wie nicht wahr. In einem Ausstellungsraum ist es für mich aber ein völlig neues Erlebnis. Und ich denke, wenn ich die Pneuprints heraushebe oder Strukturen von Eisenplatten und Schachtdeckeln abnehme und an der Wand zeige, dann erleichtert dies die Erkenntnis: Hier trifft mich etwas, in dem ich mich selbst erkenne.
D Würden Sie sich denn der Meinung von Robert Rauschenberg anschließen, der einmalüber den Flaschentrockner sagte, dieser sei für ihn die schönste Skulptur des 20. Jahrhunderts?
F Wir müssen da sehr aufpassen und genau unterscheiden. Sie sind jetzt direkt zum schönen Objekt übergesprungen. Und genau das meine ich nicht. Ich muß also präzisieren und versuchen, es zumindest theoretisch zu trennen. Einerseits geht es darum in der Lage zu sein, ein Objekt überhaupt wahrzunehmen, andererseits besteht die Möglichkeit, ein Objekt schön, interessant oder was immer zu empfinden. Mir geht es um den Akt des heraus-Nehmens, nur darin sehe ich eine Parallele zu den ready-mades. Indem ich etwas bereits Fertiges aus seiner Umgebung heraushebe – fast ohne persönlichem Zutun -, mache ich es sichtbar. Das Schöne und Interessante, das Rauschenberg anspricht, interessiert mich nicht. Es geht mir hier nicht um Ästhetik. Jedenfalls nicht in erster Linie. Natürlich, ich verwende bei meinen Fotos ein grobes Korn, ich bediene mich einer gewissen schwarzweiß Tönung, das hat sicherlich mit Ästhetik zu tun, auch mit unserer Zeit – vor einigen Jahrzehnten hätte man sicherlich möglichst feinkörnig gearbeitet; aber diese Form der Schönheit interessiert mich nur in zweiter Linie. Darum geht es nicht wesentlich. Man könnte es auch ganz anders machen, das ändert nichts an meinem Grundinteresse, an der Grunderfahrung und an dem, was ich hinüber bringen will.
D Ich will versuchen, etwas präziser zu fragen: Sie interessiert also vor allem das Phänomen, daß bei den von Ihnen hervorgehobenen Dingen Muster vorkommen, die aus Formen bestehen, die so etwas wie Grundformen sind, die bereits im Menschen selbst angelegt sind?
F Richtig. Diese Formen erlebt offenbar der Mensch aufgrund seiner tiefenpsychologischen Struktur als archetypisches Potential. Nur ist er in der Regel nicht in der Lage, dieses Potential wahrzunehmen – zumindest nicht in unserer Zivilisation. Bei uns kommt es sehr schnell zu einem Abhaken und kaum zu einem echten Erleben. Nehmen Sie zum Beispiel die Schrift. Wir sind kaum in der Lage, die kalligraphische Qualität einer für uns lesbaren Schrift zu empfinden, da wir ja sofort lesen. Und mit unserem Verstand, mit unserem Bewußtsein wird dabei jede Tiefenstruktur zugedeckt. Nehmen wir dagegen eine Kalligraphie, die ich nicht lesen kann, etwa im Chinesischen oder Japanischen, die kann ich sehr wohl hinsichtlich ihrer Stimmigkeit beurteilen. Das heißt, ich kann sie emotionell wie eins zu eins lesen und kenne mich absolut aus, obwohl ich nicht verstehe, was geschrieben steht. Das ist doch interessant, das ist ein Mysterium, aber es zeigt mir ganz genau, wie wir hier in unserer Zivilisation durch das verstandesgemäße Erkennen – zum Beispiel: aha, das ist der Abdruck eines Autoreifens – nicht mehr in der Lage sind, diese Dinge neu, wie ein Kind zu erleben.
D Könnte man es dann vielleicht so formulieren: Sie sind der Meinung, beziehungsweise Sie glauben, durch Ihre Arbeit erkannt zu haben, daß sich die Kultur unserer Zivilisation schon allzusehr von ihren Ursprüngen entfernt hat?
F Ja, wenn Sie Kultur als etwas begreifen, das diese Tiefenstrukturen des Menschen befriedigt. Das spürten ja auch damals die Surrealisten, als sie die Automatik und die Ausschaltung der Vernunft, der Überlegung forderten.
D Nun fanden sie aber ihre Urformen bei funktionalistischen Objekten – das wird jedenfalls primär von Ihnen behauptet – und auch diese sind Erzeugnisse unserer Zivilisation. Und trotzdem entdeckten Sie gerade bei diesen technoiden Produkten starke Entsprechungen zu Hervorbringungen sogenannter primitiver Kulturen.
F Ja, insofern als diese Erzeugnisse all das entbehren, was kunstspekulatives Beiwerk ist.
Wien, Jänner 1994