Anmerkungen zur Tuschemalerei
In der chinesischen Malerei gibt es den Begriff “xieyi”, welcher das kalligraphische Darstellen der Wesenheit eines Objektes zum Inhalt hat. Außer der kalligraphischen Erfassung der Seele eines Dinges bedeutet dieses Wort auch das Begreifen der Natur und der kosmischen Kräfte durch den Maler.
Das kalligraphische Schreiben eines Bildes, die Kunst, mit Pinsel und Tusche jene Prinzipien sichtbar zu machen, die den Mikro- und Makrokosmos bestimmen, wurde im Laufe der Jahrhunderte zum eigentlichen Anliegen, so daß Malerei und Kalligraphie so etwas wie angewandte Philosophie geworden sind. Der inspiriert geführte Strich hat sich zu einem Medium für Botschaften entwickelt, die über das hinausgehen, was sich in Abbild oder Worten ausdrücken läßt. Seine Funktion, als Umrißlinie eines Gegenstandes zu dienen, wie wir das in der abendländischen Bildnerei kennen, tritt demgegenüber in den Hintergrund.
Wesentlicher als das Objekt selbst ist also das, was nicht gesehen oder beschrieben werden kann. Beeindruckend dabei ist, daß die Gestaltung eines Bildes bzw. einer Kalligraphie nicht in Beliebigkeit vergeht, sondern im Gegenteil vom kleinsten Punkt bis zum gesamten Aufbau klaren Gesetzen unterworfen ist.
Wenn man die Leichtigkeit chinesischer Bilder vor Augen hat und zugleich hört, wie unverrückbar jeder Strich auf einem Bild bestimmten Kriterien genügen muß, erscheint das widersinnig. “Die Gesetze machen frei”, lautet ein chinesisches Diktum. Eine abendländische Entsprechung kennen wir in der klassischen Musik: Auch hier ist der Interpret durch exakt notierte Vorgaben gebunden, und trotzdem besteht die Kunst der Interpretation gerade darin, nicht zu spielen, was geschrieben ist, wie Pablo Casals eindrucksvoll formulierte.
Das heißt also, daß man – anders als in der westlichen Malerei – in der chinesischen Kunst einen “Kodex” zur Verfügung hat, mit Hilfe dessen man über die Qualität eines Bildes urteilen und mittels dessen man erkennen kann, wie weit der Maler in seinem Verständnis des Universums gekommen ist – was natürlich auch heißt: wie weit der Betrachter selbst gekommen ist.
Die höchste Stufe der Erkenntnis ist zweifelsfrei erreicht, wenn der Zen-Meister einen einzigen, kreisrunden Strich zu Papier bringt und darin alles, was er weiß, ausdrückt. Er zeigt sich “nackt”, keine Farbe, kein Beiwerk, nichts, das vom reinen Strich ablenkt. Er lädt ein zum Betrachten, zum Reflektieren, stellt seine Sichtweise, sein Verständnis des Universums vor und der Betrachter ist aufgerufen zu prüfen, was er erkennen kann, aber auch, wo er selbst steht.
Xie He, einer der bedeutendsten chinesischen Kunsttheoretiker, legte im 4. Jahrhundert sechs Kriterien für ein gutes Bild fest. Es sei hier nur das erste vorgestellt und anhand dessen ein Zugang zur chinesischen Kunst angedeutet. Diese erste Forderung heißt: “qi yun sheng dong”. “qi” ist allgemein betrachtet der Lebensodem, die Kraft, die lebende Materie von toter unterscheidet, “qi” ist aber auch als yin und yang zu verstehen, als die alles – vom Staubkorn bis zum Universum – durchdringenden Gegensätze, “yun” beschreibt Reim, Gleichklang und Harmonie, “sheng” Leben, und “dong” bedeutet Bewegung. Das erste Kriterium des Xie He lautet also: Setze die beiden Gegensätze in Harmonie und erzeuge dadurch Leben.
Womit auch schon die magische Bedeutung der Malerei festgestellt wird. Magie, Religion und Philosophie sind die wesentlichen Komponenten des gedanklichen Überbaus in der chinesischen Malerei. Natürlich waren viele der bedeutenden chinesischen Maler Taoisten. Abweichend vom Konfuzianismus und anderen Lehren ist beim Taoismus der Begriff “ziran” (Natur, natürlich) von zentraler Bedeutung. Der Maler malt natürlich (nicht im Sinne von genauem Abbilden), also den Gesetzen der Natur entsprechend, sich einfügend in die Abläufe der Natur, hörend auf die Gesetze des Kosmos. Als solcher ist er Teil der Natur und zeugt wie diese Leben: Seine Bilder sind lebendig.
Aus dieser einen Forderung des Xie He wurden unzählige weitere abgeleitet, wie zum Beispiel, daß dem, was nicht dargestellt wurde, größere Bedeutung geschenkt werden soll als dem, was zu sehen ist. Hat man sich aber in dieser Sichtweise geübt, tun sich neue Welten auf.
Ein Strich ist dann ein guter Strich, wenn man seine Kraft spüren kann, man muß fühlen, wie souverän, wie gewagt oft auch er vom Maler hingesetzt wurde. Ein guter Strich kann nicht Vom Papier geblasen” werden, wie eine chinesische Formulierung lautet. Er ist im Papier, wirkt manchmal sogar wie hineingeritzt (dies nicht von ungefähr, denn der Maler stellt sich zum Beispiel vor, mit dem Pinsel “drei Zoll in den Tisch hineinzuschneiden”). Oder der Strich sieht aus “wie mit einem Stück Holz in den Sand geschrieben”. Der einzelne Strich kann einem Nagel, einem Rattenschwanz, einer chinesischen Haarnadel, einem Knochen, dem Gang des Holzkäfers gleichen.
Maltechnisch bieten sich Gegensätze an, wie schnelle Striche – langsame Striche, feuchte Tusche – trockene Tusche, Ruhe – Bewegung, auflösen – zusammenfassen, dicht – lose, um nur einige zu nennen. Oder mit einem besonders weichen Pinsel (lange Spitze, Lamm) Striche zu erzeugen, die den Eindruck erwecken, als seien sie mit einem harten Pinsel (Dachs, Wolf) gemalt worden. Aber auch im ästhetischen Bereich steht diese Möglichkeit, Gegensätze in Beziehung zu bringen, zur Verfügung. Schön – häßlich, hart – weich, kantig -rund, fein – grob, ekstatisch – asketisch, emotionelles Engagement – emotioneller Abstand ….. also alles Eigenschaften, die wir aus westlicher Sicht oft eher als Gegensätze verstehen denn als Begriffe, die einander bedingen und in dem “einander harmonisch Bedingen” Bedeutung erzeugen.
Gegensätze finden auch im Inhaltlichen Ausdruck: Auf Landschaftsbildern sieht man von der höchsten Bergspitze (der Berg ist männlich, der ihn umgebende Nebel weiblich) bis ins tiefste Tal. Und wenn dort zwei Bäume stehen, ist der eine der “Gastgeberbaum” und der andere der “Gastbaum”; dieser steht in vornehmer Zurückhaltung, jener scheint auf ihn zuzugehen, scheint ihn zu umarmen.
Meditative Techniken schaffen Möglichkeiten, einen Punkt zu einem Ereignis werden zu lassen. Der Maler hält den Pinsel mit beiden Händen ausgestreckt vor sich. Er stellt sich vor, auf einem Berg zu stehen und einen Stein (seinen Pinsel) hinunter zu werfen. Zugleich drückt eine Hand nach oben, eine nach unten, eine nach links, eine nach rechts, eine zieht nach vor, eine nach hinten. Sein “qi” läßt er aus seinem Bauch durch das Herz in den Pinsel wandern. Die Spitze setzt auf dem Papier auf und ein Punkt ist erzeugt worden, beseelt durch natürliche Gegensätze.
Es ist schon eine privilegierte Form von Kunst, bei der man über einen Punkt Aufsätze, und über einen Strich Bücher schreiben kann.
Dr. Friedrich Zettl