Burghart Schmidt
Kein Blatt gleicht dem anderen
Zu einer Darstellungsserie Christoph Feichtingers ĂŒber Gestalt und Struktur
Mit unserem Sehen hat es ambivalente Bewandtnis. In den Traditionen der Gestalttheorie, wie sie in den zwanziger Jahren unter Initiation durch die PhÀnomenologie Edmund Husserls entstand, ermittelte man, daà es als Gesamtakt auf das Ersehen von Idealgestalten oder Idealfiguren einfacher Art hin tendiert, wie den geometrischen Konstruktionen von Dreieck, Rechteck, Quadrat, Kreis und so weiter. Und das hat man sogar mit einer Erneuerung des Platonismus zusammengebracht, zumal ja Platon sich sehr am Mathematiker Pythagoras angelehnt hat mit seiner anschaulichen Ideenlehre.
Biologen erklĂ€rten dann das Ersehen von einfachen Idealfiguren durch das Sehen aus dessen Orientierungsfunktionen. Zur Orientierung darf sich das Sehen nicht dem Chaos der Datenmengen ausliefern. Rudolf Arnheim hat deswegen sogar von einer Abstraktionsweise des Anschauens gesprochen, worin es der Grundfunktion des Denkens gleiche. Darum sein scheinbar paradoxer Buchtitel: “Anschauliches Denken”.
Und doch auch um der Orientierung willen ĂŒbt der Sehakt ein Anderes aus. Durch Vergleichen reiht er, er bildet Serien aus sich Ăhnlichem, das in der Reihung zu Gleichem umgesehen wird. Wobei das Serialisieren nicht bloĂ auf einer einfach geraden Linie geschehen muĂ, sondern sich in Querungen, Schwingungen, Drehungen und Rhythmisierungen begeben kann, also selbst, bei Rhythmisierungen, mit der Unterbrechungspause arbeiten mag. Aber gleichviel, welche Kompliziertheitsgrade das Serialisieren auch annehmen mag, es löst zunĂ€chst die einfachen FiguralitĂ€ten fĂŒr das Sehen auf. Die Einzelgestalten verschwinden zugunsten von Texturen und Strukturen. Statt der AuĂenform tritt der innere Aufbau auf. Statt daĂ man von auĂen aufsieht, muĂ man die innere Gliederung von etwas zu lesen beginnen. An die Stelle des Dings oder ethisch-Ă€sthetisch gesprochen des Charakters treten das VerhĂ€ltnis oder die Relation und das Verhalten.
Max Bense hat aufschlussreiche Texte zu Gestalt als Ă€uĂerer Form und Struktur als innerem Aufbau geschrieben, fast als hĂ€tte er zum Strukturalismus gehört, hĂ€tte er nicht beide Manöver des Sehens im Auge gehabt.Â
Durch Bense wird nĂ€mlich gerade fassbar, daĂ es sich bei dem Besprochenen nicht um eine einfache Ambivalenz, also Doppeldeutigkeit des Sehens handelt, sondern um gegeneinander wirkende Faktoren, also um Dialektik. Und das Figurative kehrt auch ganz augengreiflich in das Serialisieren direkt und selber zurĂŒck, wo es eben durch Rhythmisierung der offenen Linienziehungen abschlieĂende GleichklĂ€nge dem Wiedererkennen verschafft. Deshalb hatte Platon Rhythmus, Melodie, Akkord in Musik, aber auch Sprache, wo es Versifikation genannt wird, so geliebt.
Ein anderer AbschluĂ ergibt sich aus der RĂŒckfĂŒhrung der Linien in sich selber zu Rahmungen. Und wieder entsteht das Figurative aus dem Serialisierend-Strukturalen. So verband sich im Ende durch lange Perioden das Strukturale mit der Gestalt. Man nannte diese Perioden gern die klassischen, in denen das Ornamentale durch die Gestalten ĂŒberrundet wurde. Denn das ist das andere Ăsthetikum, das sich im Erörterten regt. Alles Serialisieren erzeugt den Eindruck des Ornamentalen oder des Ornamentalisierens. Ornament hat wesentlich mit Struktur gegen Gestalt im ersten Schritt zu tun.Â
Und man erfĂ€hrt das auf anschauliche Weise durch die hier gezeigten Arbeiten Christoph Feichtingers. Sie basieren auf einfachen NaturphĂ€nomenen, ĂŒberwiegend PflanzenblĂ€ttern, die aber jenseits der Pflanzengestalt, obwohl selber ebenfalls Gestalt, nĂ€mlich Blattgestalt, in Reihen gebracht sind. Und schon ĂŒberspielt im Interesse des Auges die Reihung die einzelne Blattgestalt. Die Textur oder Struktur tritt also in den Vordergrund. (Allerdings ganz nebenbei gesagt, die Blattgestalten ihrerseits sind in der Darstellung von Feichtinger nach der anderen Seite hin in ihrer Struktur oder Textur bedeutet, den reihenden AderverlĂ€ufen nĂ€mlich. Das freilich eben nur am Rande beihergemurmelt.) Man sieht stĂ€rker das ornamentale System, und Ornament ist immer System, als das, woraus das System konstruiert ist.
Zumal auf diesen BlĂ€ttern Feichtinger sich angelehnt hat an eine Programmatik des Jugendstils, die sich dort ausgesprochen hatte in dem Ruf nach einem Neuen Ornament. Und diesem Ruf sollte im Jugendstil die Ăffnung des Ornamentalen, sein AufreiĂen und Verschieben ins Ungleichgewichtige dienen. Es ging also im Ăffnen um ein Aufheben von Rahmungen (RĂŒckfĂŒhrung der Linien in sich selber) und um ein Aufheben von Rhythmisierungen, die laufende GleichklĂ€nge ansteuern. Und solche Offenheit des Ornamentalen lĂ€sst sich auf allen Darstellungen Feichtingers hier studieren.Â
In ersten Blicken erzeugt sich das, was im Poststrukturalismus der letzten Jahrzehnte Streuung hieĂ oder mit Berufung auf die Technologie der Neuen Medien Vernetzung, worin sich alle SubstanzialitĂ€t auflösen wĂŒrde in RelationalitĂ€ten.Â
Gilles Deleuze hat dazu aus der Biologie in die Theorie der RationalitĂ€t ein sehr fassliches Bild eingefĂŒhrt: Man sei heute auf dem Weg aus einem wurzelhaften, also radikalen Denken zu einem rhizomatischen, das heiĂt einem verflochten-verflechtenden Denken. Denn Radix, das ist die geballte Zentralwurzel, wĂ€hrend der Begriff der Rhizome das Wurzelgeflecht der Pilze meint, ohne Zentralisierungen im Boden nach allen Seiten sich ausbreitend, unendlich erweiterbares Wurzelnetz der verschlungenen FĂ€den in Massen statt einer nur vergröĂerbaren Wurzelfigur, man denke an die Karotte oder die RĂŒben.
Im Denken heiĂt das schwĂ€chst verbundene, nur an seidenen FĂ€den HĂ€ngende Fragmentarik oder FraktalitĂ€t. Und regt sich solche nur an seidenen FĂ€den hĂ€ngende Fragmentarik nicht ĂŒberall in den BlĂ€ttern Feichtingers hier als Darstellungsziel mit dem Wissen um die Undarstellbarkeit dessen, was die Darstellung nur anreisst? Und doch, gerade das Thema der BlĂ€tter kehrt sich dialektisch gegen ein Verabsolutieren des Streuungsgedankens in Vernetzungsidee und Rhizomatik. Das Thema sind in aufgerissen offenen Ornamentsystemen, eben der Streuung, die BlĂ€tter von Pflanzen. Und da gibt es, philosophisch wichtig, eine Anekdote: Leibniz, auf einem Spaziergang mit Hofdamen in den HerrenhĂ€user GĂ€rten von Hannover, hob denen immer wieder HerbstblĂ€tter vom Boden auf und demonstrierte daran, das kein einziges Blatt dem anderen völlig gleiche. Und das kann man an den BlĂ€ttern in den Darstellungen Feichtingers verfolgen, schon allein darum, weil sie freihand gezeichnet sind. Und fĂŒr das Freihandzeichnen gilt, was fĂŒr die BlĂ€tter von Leibniz gesagt wurde, genau so.
Dieser Individualisierungsumstand wirft den Betrachter aus den RelationalitĂ€ten der ornamentalen StrukturalitĂ€t laufend auf die einzelne BlattfiguralitĂ€t zurĂŒck oder in sie hinein. Wiederum treibt es ihn, ebenso laufend, daraus aufs Neue in die RelationalitĂ€t der Struktur, hin und her. Der Mensch ist, zu betonen, ein Schaltungswesen, das auf vielen verschiedenen Ebenen existiert und leben muĂ. Darum verhĂ€lt es sich eben so, daĂ meistens neue Einsichtskonzepte nur weitere Ebenen, Einstellungen, Aspekte, Perspektiven schaffen und nicht dabei die alten Einsichtskonzepte auĂer Kurs bringend ersetzen. Auf dem Bauplatz, sieht man von seinem Management ab, gilt immer noch Newtonsche Physik, wĂ€hrend Raumfahrt in der Tat nur mit der Einsteinschen und ihren Folgen realisierbar ist. Und man ĂŒberlege doch, wie viel Lebenszeit man auch als AufgeklĂ€rter auf der Erde als Brett verbringt, ohne das GefĂŒhl des Daseins auf der RĂŒckseite einer durch den Weltraum rasenden Kugel, vielmehr geht einem wie anno dazumal die Sonne auf und die Sonne unter. Naturwissenschaftler haben oft viel weniger die Ansicht, daĂ durch Fortschritt der Wissenschaften die alten Wissenschaftlichkeiten sich erledigt hĂ€tten, als man das bei Wissenschaftstheoretikern antrifft. Vielleicht ist es auch ein wenig die naturwissenschaftliche Herkunft Feichtingers, die in den vorliegenden Arbeiten mitspielt und die Dialektik zwischen Gestalt und Struktur, Struktur und Gestalt austragen lĂ€sst gegen ein Verabsolutieren des antisubstanzialen Strukturalismus.Â
Der Betrachter kann das ja im Sehen erleben, wie er einerseits getrieben ist, ĂŒber die EinzelfiguralitĂ€t der Blattmotive hinwegzusehen und nur die LinienfĂŒhrung des Ornamentalen in dessen Aufrisse und Ăffnungen zu verfolgen, um dann im AufriĂ der Ăffnung den Fall zu tun in das einzelne Blattmotiv eines Netzknotens, was es wiederum nicht bei sich aushĂ€lt und neuerlich in die strukturale LinienfĂŒhrung des Ornamentalen ĂŒbergeht. Solches tut sich darstellerisch und anschaulich auf einfache, augenschlagende Weise auf, und es regt sich eine kleine Weisheit darin: Sehen, das sich selber nicht sieht, tendiert zu einem bewegten Verschmelzen mit dem zu Sehenden, als ob es sich selber dadurch sehen könnte.